Ein Schweizer will mit dem Solarflugzeug die Welt umrunden – und Geschichte schreiben. Wie sein Großvater, der erstmals mit einem Ballon in die Stratosphäre aufgestiegen war

erschienen im FOCUS Magazin

Sein Großvater sah als erster Mensch mit eigenen Augen, dass die Erde rund ist. Mit einem Ballon stieg Auguste Piccard immer höher und höher, bis er die Stratosphäre erreichte. Höher, als je ein Mensch vor ihm gestiegen war. Das war 1931. Sein Vater tauchte 29 Jahre danach auf den Grund des Marianengrabens hinab. Fast elf Kilometer tief in bis dahin unerforschte Dunkelheit. Tiefer, als je ein Mensch vor ihm getaucht war.„Wenn etwas unmöglich scheint, muss man es versuchen“, glaubt Bertrand Piccard und blickt aus dem Wohnzimmerfenster in die Welt. Er will seinem Großvater und Vater gerecht werden – und erneut das Unmögliche möglich machen.


Der Genfer See liegt flach wie ein Spiegel im Tal. Die Abendsonne färbt ihn silbern. In der Ferne erheben sich Berge, deren Gipfel weiß sind vom Schnee. Ein Ausblick wie eine Postkarte. Hier bei Lausanne in der französischen Schweiz lebt der 56-Jährige mit seiner Frau und seinen drei Töchtern.

Wenn Piccards hellblaue Augen sein Gegenüber ansehen, dringt der Blick durch Mark und Bein. Einschüchternd, wäre da nicht sein wohlwollendes Lächeln, das fast gnädig scheint. Im blauen Jackett, den dünnen Schal adrett um den Hals gebunden, sitzt er da und sagt Sätze wie: „Wenn du willst, dass die Welt ein besserer Ort wird, dann musst du anfangen umzudenken“ und „Grenzen gibt es nur im Kopf“. Sätze wie Kalendersprüche.

Für Piccard sind es Glaubensbekenntnisse, die er unter dem stets ernsten Blick seines Großvaters ausspricht, der als Büste neben dem Sofa steht. Auguste Piccard thront auf einem Sockel, beobachtet, mahnt den Enkel.

Piccard will mit einem Solarflugzeug die Welt umrunden. Mal wieder als erster Mensch. So wie sein Großvater sich die Höhe zu eigen machte und sein Vater die Tiefe, nimmt er sich die Weite. „Viele sagten, dass es unmöglich sei, länger als ein paar Stunden am Tag mit einem Solarflugzeug zu fliegen. Also dachte ich mir: Gut, wir werden mit einem Solarflugzeug um die Welt fliegen, bei Tag und in der Nacht.“ Dieses Mal in Etappen, in fünf bis zehn Jahren vielleicht am Stück.

Das Flugzeug, die „Solar Impulse 2“, steht in einem riesigen grauen Hangar in Payerne, 50 Kilometer von Lausanne entfernt. Eine Maschine mit einer Spannweite von 72 Metern, etwas weniger als ein Airbus, auf der sich 17 248 Solarzellen verteilen. Dabei wiegt sie nur 2,3 Tonnen, kaum mehr als ein Range Rover.

80 Menschen stecken hinter dem Projekt, das umgerechnet rund 115 Millionen Euro kostet. 95 Prozent der Gelder kommen von Sponsoren, der Rest von Privatpersonen. Als Dankeschön finden sie ihre Namen auf einer der Solarzellen wieder.

Am Mittwoch wurde die „Solar Impulse 2“ der Öffentlichkeit präsentiert: In großen Lettern steht „Solar Impulse“ an der Wand. Im Hangar sitzen Journalisten und geladene Gäste auf hellbraunen Holzstühlen. Kameras sind auf die Bühne gerichtet. Dahinter ein schwarzer Vorhang. Über den Vorhang hinweg bohrt sich ein riesiger Flügel durch den Raum und überragt ganze Sitzreihen. Kurz nach 15 Uhr beginnt die Enthüllung. Piccard und der „Solar Impulse“-Mitbegründer André Borschberg, ein ehemaliger Luftwaffen-Pilot, stehen im Scheinwerferlicht. „Eine Vision bedeutet gar nichts, bis man sie in die Tat umsetzt“, sagt Piccard. Als kurz darauf der Vorhang fällt und die Sicht auf den Solarriesen freigibt, schreiben er und Borschberg an einem Mittwoch im April Geschichte. Dieses Mal, ohne den Erdboden zu verlassen.

Piccard kennt das Gefühl, etwas Großes vollbracht zu haben, das noch niemand vor ihm geschafft hat. In den Neunzigern umrundeten er und sein Begleiter Brian Jones mit einem silbernen Ballon die Welt. 19 Tage, 21 Stunden und 47 Minuten waren sie unterwegs. Wind und Wetter ausgeliefert. „Wir hatten die ganze Zeit Angst, dass uns der Treibstoff ausgeht und wir einfach ins Meer stürzen“, sagt Piccard wenige Tage vor der Enthüllung in Payerne. Wenn er über sein aktuelles Projekt spricht, vermeidet er das Wort „Angst“ und spricht lieber von „Risiken“. Er spricht von „Fragezeichen als Stimulation für Kreativität“. Andere würden es schlicht verrückt nennen.

Piccard wird am 1. März 1958 in Lausanne geboren. Schon als Kind träumt er sich mit Büchern in Abenteuer über den Wolken. Er liest über die Geschichte der Raumfahrt und die Erforschung des Weltalls.

Als er zehn Jahre alt ist, zieht die Familie Piccard nach Florida. Für andere Kinder wäre das ein Albtraum, für den kleinen Bertrand geht es dorthin, wo seine Träume zu Hause sind, Cape Canaveral und das Kennedy Space Center. Er begegnet den Menschen zu seinen Träumen: dem legendären Piloten Charles Lindbergh, dem die erste Atlantiküberquerung im Alleingang gelang, und dem Fliegerveteran Chuck Yeager, der als erster Mensch die Schallmauer durchbrach. Der Leiter des Apollo-Programms, Wernher von Braun, lädt ihn persönlich ein, bei Raketenstarts dabei zu sein.

„Das waren Helden für mich, von denen ich in meinen Büchern gelesen habe“, sagt Piccard. „Da erkannte ich, dass meine Träume und die Wirklichkeit gar nicht so weit auseinanderliegen.“ Jules Verne heißt sein Vorbild.

Mit 16 Jahren ist er so weit. Er gleitet erstmals mit einem Flugdrachen durch die Luft. So überwindet er seine Höhenangst, geht noch weiter, macht sich bald als junger Ultraleichtflugzeug-Pilot einen Namen. Er studiert Medizin, wird Psychiater und Psychotherapeut. Sein Studium hilft ihm, seinen Antrieb zu verstehen: „Ich bin niemals zufrieden mit dem, was ich habe. Ich bin aber sehr glücklich mit dem Leben, das ich führe“, sagt er heute.

Er gründet die Stiftung Winds of Hope, die hilft, seltene Krankheiten zu erforschen und zu bekämpfen. Er steht Hunderte Male auf dem Podium, wird Botschafter für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, ist Autor. „Ich will Menschen motivieren, Pioniere in ihrem Leben zu sein“, sagt er. Im Jahr 2003 starten Piccard und Borschberg schließlich das Projekt „Solar Impulse“.

In einem kleinen Raum, der an Piccards Wohnzimmer angrenzt, stehen gut 50 Flugzeugmodelle. Aus Chrom, Bronze und Stahl. An der Tür hängen zwei Fliegerkappen aus dem ZweitenWeltkrieg. Piccard deutet auf eine Puppe, die im Regal liegt. Wuchtiger Bart, schwarzer Haarkranz, Nickelbrille, grüner Mantel: der verrückte Professor Bienlein aus „Tim und Struppi“. „Mein Großvater diente dem Zeichner als Vorbild“, sagt Piccard und lacht. „Ich finde das großartig.“ Vielleicht hilft ihm sein Humor dabei, an Visionen zu glauben, die andere als Hirngespinst abtun.

In einem Jahr soll die „Solar Impulse 2“ starten. Von der Golfregion über das Arabische Meernach Indien, Birma,China, den USA, Südeuropa oder Nordafrika und zurück zum Ausgangspunkt. Am Ruder werden Piccard und Borschberg sich abwechseln.

„Alle aus der Flugbranche haben mir gesagt, dass es unmöglich ist, ein Flugzeug zu bauen, das groß genug und leicht genug zugleich ist“, sagt Piccard. „Aber ich habe als Schüler schon nie etwas einfach akzeptiert. Für meine Lehrer war ich ein Albtraum.“

Sechs Jahre hatten er, Borschberg und ihre Mitarbeiter geforscht und am Prototyp „Solar Impulse 1“ gebaut. Im Juni 2009 präsentierten sie den Flieger und stellten erste Weltrekorde auf.

Der Prototyp ist groß und leicht genug zugleich. Aber ohne die nötige Grundausstattung, um mehrere Tage in der Luft zu verbringen. Im 3,8-Kubikmeter-Cockpit der „Solar Impulse 2“ befinden sich auch Toilette, Schlafmöglichkeit und Stauräume.

In seinem Haus in Lausanne stapelt der Höhenflieger tief: „Es geht nicht darum, was wir tun, sondern, warum wir es tun“, so Bertrand Piccard zu FOCUS. Dann referiert er minutenlang über die Einsparung von Ressourcen und über Solarenergie als Energie der Zukunft. Er erzählt von seinem Hausdach, das er isolieren ließ, und von der Wärmepumpe, die sich in seinem Garten 180 Meter tief in den Boden bohrt. Sie ersetzt das Heizöl.

„Ich will nicht, dass unser Flug allein als irgendein Rekordflug gesehen wird“, sagt er. „Uns geht es um viel mehr: Wir wollen Menschen inspirieren.“ Und: „Fliegen macht Spaß, Rekorde brechen auch, es soll der Menschheit aber auch nutzen.“

500 Stunden soll der Flug dauern, verteilt auf vier Monate. Zwischen den Etappen will Piccard weltweit über erneuerbare Energien sprechen. Er weiß, dass sich die Öffentlichkeit mehr für spektakuläre Bilder und Rekorde interessiert. Ein bisschen Nahrung für den Abenteurer in jedem von uns. Aber er sagt auch: „Wenn die Leute dank ,Solar Impulse‘ verstehen, dass es wichtig ist, Energie zu sparen, dann könnte der Effekt enorm sein.“

Die Sonne über dem Genfer See geht langsam unter und färbt das Silber rot. Die letzten Lichtstrahlen des Tages fluten das Wohnzimmer, als eine von Piccards Töchtern die Wendeltreppe hinab zur Haustür stürmt. Die Töchter sind 19, 21 und 24 Jahre alt, die mittlere sprang an ihrem 18. Geburtstag mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug. Natürlich. Alle drei Töchter haben einen Tauchschein oder können einen Flugdrachen steuern.

„Manchmal mache ich mir schon Sorgen“, sagt Piccard. Ebenso, wie sich Auguste, der Großvater, um Jacques, den Vater, sorgte und Jacques um Bertrand. „Abenteurer und Vater zu sein passt oftmals nicht ganz zusammen“, gibt Piccard zu. Die Tochter winkt und geht zur Tür hinaus. Zum Abschied schickt der Vater ihr ein paar Küsse hinterher. Luftküsse.

 

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