Davide Martello reist mit seinem Flügel um die Welt – und taucht immer dort auf, wo ihn keiner erwartet: bei Protesten und Krawallen.
erschienen im FOCUS Magazin
In Konstanz ist es längst dunkel, als der „Friedensengel“ erscheint. Sein Gefährt ist kein goldenes, es ist ein alter VW–Vento mit getönten Scheiben, übersät mit Kratzern und Dellen. Die Beifahrertür knarzt beim Öffnen. Rote Jeans, Winterjacke, kurze schwarze Haare. Er grüßt, als wäre man seit Jahren befreundet. Ungefragt sagt er: „Jede Beule hat eine Geschichte.“ Er meint sein Auto. Und beginnt zu erzählen.
In Athen haben sie ihm eine Scheibe eingeschlagen und den Wagen geplündert. Die Ersatzscheibe ist nicht getönt. Im bulgarischen Plovdiv ist ihm ein Fahrradfahrer ins linke Rücklicht gebrettert. Seitdem fehlt ein Stück. Eine Delle knickt die Stoßstange nach innen, seit er in Istanbul vergaß, die Handbremse zu ziehen, und sein Wagen frontal gegen eine Laterne prallte. Im Juni 2013 war das, als sich am Taksim-Platz in Istanbul die Wut auf ein politisches System an ein paar Bäumen entzündete, die gefällt werden sollten. Demonstrationen gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan waren die Folge. Proteste, Gewalt.
Mit John Lennons „Imagine“ aber unterbrach damals ein junger, unbekannter Mann am Klavier das dumpfe Klopfen der Schlagstöcke, das Zischen der Wasserwerfer und befriedete das Chaos für ein paar Stunden. Sogar hartgesottene Polizisten nahmen ihre Helme ab, hielten inne. Hunderte Bilder findet man davon bei Facebook oder Instagram. Wer bei Youtube „Davide Martello Taksim“ eingibt, bekommt mehr als 1000 Videos aufgelistet. Nach diesem Aufritt, der weltweit Beachtung fand, taufte ihn die Presse „Friedensengel“.
In Davide Martellos verbeultem Wagen bedecken alte Plastikbecher und leere Verpackungen die grauen Fußmatten. Schnell wird klar: Das ist das Auto eines Reisenden. „Friedensengel? Nein, den Namen mag ich nicht besonders“, sagt Martello, während er stadtauswärts steuert. „Friedensengel hört sich an, als wäre ich irgendwie vom Himmel herabgestiegen, um die Welt zu retten. Bin ich aber nicht.“ Martellos Geschichte ist eine andere.
Seine Eltern kamen in den 60er-Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. Der Vater ist Industriemechaniker und Metallarbeiter, die Mutter Hausfrau. Untere Mittelschicht, konservativ, tiefreligiös. In Deutschland treten sie den Zeugen Jehovas bei. Seine Jugend verbringt Martello auf dem Land, in Tuningen, zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb. Die Erziehung ist streng. Martellos Freude an klassischer Musik aber teilt der Vater, fördert sein Talent, bezahlt Klavierstunden. Es dauert nicht lang, und der Junge komponiert eigene Stücke. Mit 13 Jahren. Doch in der Schule läuft es schlecht, Hauptschulabschluss. Der musisch talentierte Junge wird Friseur in Konstanz am Bodensee. Tagsüber schneidet, legt und föhnt er Haare. Jeden Samstagabend sitzt er in einer Hotelbar und bespielt Schweizer Touristen, die ihn kaum beachten.
Note für Note, Melodie für Melodie setzt sich an diesen Abenden eine absurde Idee in Davides Kopf fest. Er will kein Friseur mehr sein. Er träumt davon, mit einem Flügel die Welt zu bereisen. USA, Indien, Mittlerer Osten. Überall auf der Welt will er spielen, dieser Friseur aus Konstanz. Ein Träumer vom Bodensee.
Martello steuert seinen Vento über die alte Rheinbrücke. Auch hier hat er schon gespielt. Zwei Stunden lang, bis sich Anwohner beschwerten und die Polizei rückte an. Aus Protest stellte Martello seinen Flügel vor dem Polizeirevier auf. „Keine drei Sekunden hat es gedauert, da stand wieder ein Polizist vor mir“, erzählt er und lacht. „Musik ist auch Provokation.“
Wenige Minuten später parkt Martello in einer Seitenstraße. In einem kleinen Tonstudio wird er heute sein aktuelles Album „La danse du soleil“ vorstellen. Es ist sein achtes in Eigenproduktion. Plattenverträge mit großen Labels lehnt er ab: „Die knebeln einen nur“, sagt er.
Im Dezember 2012 spielte Martello ein Weihnachtskonzert in einem Bundeswehrlager in Afghanistan, gleichzeitig flogen US-Streitkräfte in der Nähe Angriffe auf Taliban-Stellungen. „Während ich spielte, hörte ich die Einschläge der Bomben. Da hatte ich wirklich Angst“, sagt er. Heute Abend wird er vor nur 20 Gästen spielen. Im beschaulichen Konstanz, nicht im Kriegsgebiet.
Dennoch ist Martello nervös. Der Motor läuft noch. „Soll ich einen Sekt besorgen, vielleicht?“, fragt er. „Ist das eine gute Idee?“, fragt er. „Sekt geht doch immer, oder?“ Er dreht den Zündschlüssel um, nach einem kurzen Stottern steht der Vento still. Die Antwort auf seine Fragen wartet er gar nicht erst ab. Kaum ist er ausgestiegen, hat er den Gedanken schon verworfen.
An einer Hauswand führen 14 Stufen in den Keller. Drinnen ein Vorraum mit einem Schreibtisch. Noch eine Tür. Dahinter ein Sofa, ein Mischpult und ein schalldichter Raum, ausgelegt mit roten Teppichen im Persermuster. Das Tonstudio gehört dem Produzenten Patrick Wind, der als Tontechniker schon mit Udo Jürgens auf Tour war.
„Patrick, ich brauche einen CD-Player und Kopfhörer“, sagt Martello. „Kannst du mir das nicht vorher sagen? Ich weiß nicht, ob ich einen hier habe“, antwortet Wind. Martello will noch einen Hall-Effekt ausprobieren. „Den lassen wir lieber weg“, rät Wind. Martello stellt eine seiner CDs auf einen drehenden Plattenspieler, dazu ein elektrisches Teelicht. „Nicht draufdrücken, Davide, so geht das Teil kaputt“, ruft Wind und lacht. „Manchmal ist es ganz schön chaotisch mit ihm. Aber wäre er strukturierter, würde er sicher nicht mit einem Flügel um die Welt reisen.“
Aufgeregt? Martello schaut über die Schulter. „Ich mach das ja nie“, sagt er. „Hätte ich schon 100 solcher Konzerte gespielt, dann wäre ich Maschine.“ Den unbestimmten Artikel lässt er im zweiten Satz weg. Er redet häufig so.
Wenn Martello Grammatik unterschlägt, aufgeregt durch den Raum rennt, sich über das elektrische Teelicht freut, kann man sich Davide, den Friseur, vorstellen, wie er im Laden herumwuselt und die Kundschaft bei Laune hält. Ein aufgekratzter junger Mann, der das Leben in seinem eigenen Rhythmus lebt. Nicht vorausschauend, nicht planend. Ein netter Chaot mit einem Traum, den ihm seine Kundinnen von Herzen gönnen, weil er ihn noch liebenswerter macht. Davide, der Friseur, von dem die meisten aber wohl insgeheim denken, dass er nie ein richtiger Künstler werden wird. Jedenfalls keiner, der mit einem Flügel die Welt bereist.
Das Märchen vom jungen Friseur aus Konstanz scheint weniger fantastisch, als sich Martello mit 27 Jahren an einer Musikschule bewirbt. Es ist eine Schule, an der Noten nur zählen, wenn sie nach einem Notenschlüssel in einer Zeile stehen. Für den Aufnahmetest reist er nach Berlin. Doch auf dem Weg zur Schule klingelt sein Handy. Ein Schreiner ist dran. „Eine Freundin von mir ist Kundin bei dir im Friseurladen und hat mir von deinem Traum erzählt“, sagt der Schreiner. „Ich habe eine Werkstatt, da kannst du deinen Flügel bauen, wenn du magst. Willst du?“
Martello fällt fast das Handy aus der Hand. Kurz zweifelt er. „Ist das ein Scherz?“, denkt er. Kein Scherz. Er bedankt sich, sagt, er ruft zurück, und legt auf. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er die Chance, tatsächlich an seinem Traum herumzubasteln. „Ich war noch nie in meinem Leben in so einem Zwiespalt“, sagt er.
Als der Test beginnt, kennt Martello die Antworten auf die Fragen. Schreibt er sie auf, wäre er die nächsten fünf Jahre wohl Musikstudent. Er überlegt, überlegt noch einmal. Die Uhr tickt. Er liest die Fragen, liest sie noch einmal. Die Zeit scheint stillzustehen. Schließlich gibt er ein leeres Blatt ab.
In den kommenden zwei Jahren arbeitet er dienstags bis freitags im Friseurladen, jeden Samstag klimpert er in der Hotelbar, montags und dienstags steht er in der Schreiner-Werkstatt. Er höhlt einen alten Flügel aus, den er günstig erstanden hat, baut neue Technik ein: Lautsprecher und LED-Lichter. Der Flügel wird zum E-Piano, die Hülle zur Fassade.
2010 kündigt Martello im Friseurladen und kratzt sein Erspartes zusammen. Es ist nicht viel, aber genug, um wieder nach Berlin zu fahren. Sein erstes „Konzert“ spielt er auf dem Potsdamer Platz. Touristen bleiben stehen, Geschäftsleute hetzen an ihm vorbei. „Ich hatte richtig Angst, weil ich keine Genehmigung hatte“, erinnert sich Martello. Doch niemand kam. Keine Polizei, kein Ordnungsamt. Berlin ist nicht Konstanz.
Heute gehören Bußgelder für Martello längst zum Arbeitsrisiko. Sonst hat sich nicht viel geändert: Er koppelt immer noch seinen alten schwarzen Anhänger mit dem Flügel an den Wagen, fährt irgendwohin, parkt, lädt das Instrument mit einem elektrischen Seilzug aus, hängt es an sein Fahrrad und fährt die letzten Meter. Eine One-Man-Show ohne Blitzlichtgewitter. Er fängt an zu spielen, wenn die Sonne untergeht, dann leuchtet sein Flügel ihm blau ins Gesicht und verleiht ihm eine Blässe, als säße eine Märchengestalt am Klavier.
Seine Reisen nennt Martello „Klavierkunst“. 32 Länder hat er bereits bespielt, sagt er. Zuletzt in Nordamerika – von New Orleans bis Montreal. „Zwei Wochen halte ich es an einem Ort aus, dann muss ich weiter.“ Gut 20 000 Euro kostete ihn das im vergangenen Jahr. Martello versichert, dass er nur von CD-Verkäufen und Spenden lebt: „Da kommt schon einiges zusammen“, sagt er. Nur manchmal, gibt er zu, sammeln andere Künstler ein bisschen Geld für ihn. Und manchmal, wenn er neue CDs aufnehmen möchte, stellt ihm ein Luxus-Immobilienbüro leere Wohnungen zur Verfügung. Als Sponsor, ohne Gegenleistung. Ein Rastloser, der mit einem Flügel die Welt bereist, und ein Unternehmen, das teure vier Wände vermittelt: Es klingt wie ein flacher Marketing-Gag. Ein sehr flacher. Doch Martello ist das egal. Kein Friseurladen mehr, keine Hotelbar, keine Verpflichtungen. Nur das zählt für ihn.
In Konstanz haben alle Gäste im Keller Platz genommen. Eine türkische Alevitin aus Achern in der Ortenau, die ihn im Fernsehen gesehen hat, wie er auf dem Taksim-Platz spielte. Eine Frau aus München, die Martello in der Fußgängerzone kennen lernte. Ein Paar aus Freiburg, das ihn aus YouTube-Videos kennt. Und einige Freunde und Bekannte.
Davide Martello diskutiert mit ihnen nicht über Mozart, Liszt oder Beethoven. Lieber holt er zwei Hände voll Duplos und Yoguretten als Büfett-Ersatz. Sekt gibt es keinen, dafür ein paar Anekdoten.
Beim HoGeSa-Aufmarsch in Köln im vergangenen Oktober ignorierten ihn die Hooligans zunächst, weil er eigene Kompositionen spielte, erzählt er. Tausende waren gekommen, um gegen Salafismus in Deutschland zu demonstrieren. Gewaltbereite Schläger, die den hageren „Friedensengel“ am Flügel nur belächelten. Aus der als friedlich angekündigten Demo wurde eine Straßenschlacht. Doch ausgerechnet bei Helene Fischers „Atemlos“ hielten die Hooligans inne und lauschten, während sich die Wasserwerfer in der Dämmerung aus der von Scherben übersäten Kölner Innenstadt zurückzogen. „Das war unglaublich“, sagt Martello und nimmt einen Schluck Apfel-Ingwer-Saft.
Spielt er heute Helene Fischer? Er klopft seinem Gegenüber auf die Schulter. Nein, soll das heißen. Er spielt nicht gern Lieder von anderen. „Ich bin kein Straßenmusiker, ich bin Künstler“, sagt er. Martello setzt sich an den polierten Flügel und legt die Kopfhörer an, um die ersten Noten seiner Komposition zu hören. „Sorry“, sagt er. „Ich habe zu viele Melodien im Kopf, deshalb brauche ich das.“ Er hört kurz rein, nimmt den Kopfhörer wieder ab.
Als die ersten Töne durch den Raum schwingen, wippt Martellos Kopf im Takt von links nach rechts. Das Paar aus Freiburg hält innig Händchen. Kein Husten, keine Geräusche. Keiner bewegt sich, alle blicken nur gebannt auf ihn.
Im Grunde, das wird in diesem Moment klar, gibt es zwei Martellos. Der eine ist unordentlich, etwas hibbelig, oft chaotisch. Ist einer, der sein Auto nicht aufräumt und beim Reden Artikel unterschlägt. Der andere sitzt am Flügel, ruhig und gelassen, versinkt in seinen Kompositionen. Durch seinen Kopf tanzen so viele Melodien, dass er sie kaum auseinanderhalten kann. Ein Musiker mit einer Botschaft.
„Auf dem Taksim-Platz wollte ich nicht auf mich aufmerksam machen, sondern auf die Message“, sagt Martello später am Abend. „Dass man von den Barrikaden runterkommen soll, redet, chillt, das ist besser als Krieg.“
Auch Martello weiß, dass keine PR-Agentur solche Aufritte besser inszenieren könnte. Aufritte, die seine künstlerische Freiheit sind, aber auch sein persönliches Marketing-Tool. Und dennoch: Das Konzert auf dem Taksim-Platz war kein geplantes, es war eine spontane Aktion. Martello befand sich auf einer Tour durch Bulgarien und sah die Krawalle in den Nachrichten. Also fuhr er kurzerhand mit seinem Vento von Sofia nach Istanbul. „Einfach so“, sagt er.
Im Tonstudio in Konstanz lässt Martello seine Komposition „Felicitas“ ausklingen. Das Lied hat er für die verstorbene Tochter eines Freundes komponiert. Die türkische Alevitin wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Martello knackst mit den Fingern, lächelt verstohlen: „Yo, das war’s“, sagt er.
Wenn der Flügel des Friedensengels verstummt, ist Martello wieder nur Davide. Der Ex-Friseur, der sich einen ungewöhnlichen Traum erfüllt hat und heute noch nicht weiß, wo er morgen auftritt.