In sozialen Medien lässt sich ein Effekt beobachten, den man eigentlich nur von Babys kennt: Wenn eines anfängt zu heulen, heult das andere auch. Shitstorm nennt sich das in neudeutschem Internet-Sprech, und die hysterische Schwester von höflicher Diskussion scheint zunehmend echte Debatten abzulösen. Das trifft auch vermehrt die Werbebranche, weil vereinzelte Konsumenten und selbsternannte Moralwächter jede Kampagne pedantisch und streng humorlos auf Political Incorrectness abklopfen – und auf alles andere, an dem man sich reiben kann.

Jüngst musste sich etwa Müllermilch Rassismus und Sexismus vorwerfen lassen, weil das Unternehmen eine leicht bekleidete, dunkelhäutige Dame auf ihre Schokoladenmilch druckte. Smart brachte eine Handvoll Helikopter-Eltern gegen sich auf, weil der Autobauer in einem Radiospot verriet, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Und IBM hat nach Sexismusvorwürfen seine Föhn-Kampagne zurückgezogen, mit der das Unternehmen vermehrt um Wissenschaftlerinnen werben wollte.

Wer sich über einen Radiospot aufregt, in dem es um den Mythos Weihnachtsmann geht – obwohl doch eigentlich das Christkind Geschenke bringt und der Weihnachtsmann eine Erfindung der Werbebranche ist – der hat wahrscheinlich noch ganz andere Probleme. Aber wer in einem Föhn und in einem Frauen-Motiv auf einer Schokoladenmilch schon blanke Diskriminierung erkennen will, der entlarvt sich als Zyniker, weil er wirkliche Problematiken mit persönlichen Befindlichkeiten gleichsetzt. So empört er sich aber nicht im Sinne einer offenen Gesellschaft, sondern aus einem digitalen Narzissmus heraus, der für soziale Medien immer symptomatischer zu werden scheint.

Niemand zwingt einem Unternehmen eine bestimmte Produkt- oder Marketingstrategie auf. Wer Provokation sät, wird Empörung ernten. Schließlich wissen wir doch, dass Humor und Selbstironie ganz besonders seltene Güter sind.

Bei der tatsächlichen Bewertung, ob es sich in den vorliegenden Fällen wirklich um Diskriminierung handelt, hilft es wenig, wenn Journalisten in vorauseilendem Gehorsam jede Kampagne als Fauxpas bezeichnen, weil sie von irgendwem als „politisch inkorrekt“ gebrandmarkt wurde – oder sie dem Cyber-Mob nach dem Mund reden. Hier müssen sich vor allem die Massenmedien wieder auf ihre Objektivität und Überparteilichkeit besinnen, auf die journalistische Sorgfaltspflicht. Der Grundsatz „In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten, sollte Teil dieser Objektivität sein. Das nur am Rande.

Gute Werbung entsteht aus kreativer Freiheit. Mit sexuellen Reizen oder Klischees zu spielen, Kulturelles in andere Kontexte zu setzen, oder Realität und Kinderträume aufeinanderprallen zu lassen, sind Teil dieser Freiheit. Alles unter der Prämisse natürlich, dass sich auch Werbung an gewisse Spielregeln halten muss. Diese Spielregeln werden aber in der realen Welt festgelegt, in Gesetzestexten und Kodizes, nicht auf Facebook und Twitter. Persönliche Befindlichkeiten machen noch lange keine berechtigten Vorwürfe.

Eine Minderheit an ewig Aufgebrachten, die als „das Netz“ völlig überbewertet werden, sieht das natürlich anders. Manche von ihnen sind dank ihrer permanenten Entrüstung schließlich längst zu ganzen Marken geworden, samt eigenem Hashtag und Talkshow-Auftritten. Empörung als Geschäftsmodell.

Marketer müssen deshalb entscheiden, ob sie für die Freiheit der Werbung einstehen oder sich ihre Kampagnen von diesen Leuten diktieren lassen. Wer als Reaktion auf den Cyber-Mob seine Kampagnen zurückzieht, der motiviert und riskiert, dass die Vorwürfe künftig noch inflationärer werden und das Gebrüll noch lauter. Das trifft dann die gesamte Werbebranche, auch die Standhaften: Und hier wird es ungerecht.

Übrigens: Kinder entwickeln ab dem zweiten Lebensjahr einen eigenen Willen und ein Ich-Bewusstsein. Dann schwappt das Geheule eines Kindes zumeist auch nicht mehr auf das andere über.

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