Während ich diese Zeilen schreibe, parkt meine Freundin gerade ihr Auto um. Nicht unbedingt aus Angst, dass der Kleinwagen, kein Porsche oder Mercedes, tatsächlich brennen könnte. Es ist eher eine Vorsichtsmaßnahme. Ein bisschen so, wie man seinen Kindern rät, nicht zu nahe an den Felsvorsprung zu treten. Man weiß ja nie. Unser Felsvorsprung, hinter dem das Chaos wartet, ist nur eine „Kurzstrecke“ entfernt. Über mir kreist ein Helikopter, Martinshörner heulen. Eben schrieb mir mein Vater, ob bei uns alles in Ordnung sei. Eine Bekannte ist derweil auf dem Weg nach Sylt. Da sei es sicher, sagte sie, und lud uns ein, tagsdrauf nachzukommen.

Diese handvoll Sätze notierte ich am Freitag, 7. Juli, während ich auf einer kleinen Terrasse in Hamburg saß. Eigentlich wollte ich weiter schreiben, einen Text zum Thema publizieren, einen Erlebnisbericht, wenn man so will. Doch mir fehlten an diesem Freitag die richtigen Worte, um zu beschreiben, was ich genau erlebte, aber vor allem, wie ich mich dabei fühlte.

Es war ein Tag nach der „Welcome to Hell“-Demo, ein Tag, nachdem ich das erste Mal daneben stand, während es zwischen der Polizei und den Vermmumten eskalierte. Ein Tag, nachdem ich fast mit Pfefferspray beschossen wurde, während ich meine Freundin schützend mit beiden Armen umschloss und hinter mich zog. Kurz zuvor war die Polizei in Richtung Randalierer gestürmt, 200 Beamte sicherlich. Wir kamen nicht mehr rechtzeitig aus der freien Fläche zwischen Randalieren und Beamten heraus. Die Polizisten zielten auf uns, blickten uns durch ihre Sehschlitze mahnend an. Doch wir hatten Glück und es blieb dabei.

Ich habe in der G20-Woche viel gesehen. Vor allem Polizisten, zu Tausenden, die im – sagen wir – kritischen Bereich an jeder dritten Straßenecke positioniert waren. Dieser Bereich lässt sich für mich, soweit ich das überblicken konnte, ganz gut nach S-Bahnstationen definieren: Im Süden Jungfernstieg, westlich Königstraße hoch bis Holstenstraße, im Norden Sternschanze und im Westen Dammtor bis Landungsbrücken. Das war die Kampzone.

Bürgerkriegsähnliche Zustände

Im kritischen Bereich wäre ich fast mit Pfefferspray beschossen worden, sah Wasserwerfer, die sitzstreikende Demonstranten von der Straße wischten, Bierflaschen, die auf Polizeiwägen flogen, brennende Mülltonnen, Bauschutt, um Wege zu blockieren, „Demonstranten“, die Feuer legten, Böller warfen, ausgebrannte Autos, darunter eines – mein erstes sozusagen – das ich als BMW Z3 zu identifizieren meinte.

Ich ließ mich von der Techno-Musik während „G20 – Lieber tanz ich“ mitreißen und spazierte schunkelnd und trinkend zur Reeperbahn. Und ich war tagsdrauf bei „Welcome to Hell“, nicht als Demonstrant, sondern aus reiner Neugier. Das kann man nun mutig oder dumm finden, aber ich bin ja nicht ohne Grund Journalist geworden. Ich musste länger auf S-Bahnen warten, die plötzlich andere Richtungen einschlugen. Ich wurde kontrolliert, wie alle anderen auch, als ich in den Hauptbahnhof wollte. Ich konnte zeitweise nicht klar denken, weil alle paar Minuten Martinshörner an mir vorbei heulten. Und ich verschickte Fotos und Videos an Freunde und musste sie und meine Familie beruhigen, dass alles gut sei – trotz der bürgerkriegsähnlichen Zustände, die man zweifellos so nennen konnte. Kurzum: Ich war wirklich dabei.

Wirre Ferndiagnosen

Der Grund, warum ich das an dieser Stelle ausgiebig betone, ist folgender: Ich kann all diese Relativierungen aus der Ferne nicht mehr hören. Relativierungen von Jakob Augstein und Katja Kipping etwa, die der Polizei die Schuld in die Schuhe schieben. Gerade dieser dumpfe, reflexhafte Opportunismus ist vielleicht die eindeutigste Begründung, warum man gewisse Blätter nicht lesen und gewisse Parteien nicht wählen sollte. Denn Tatsache ist: Ich habe in all den Stunden, in denen ich vor Ort war, nicht einmal den Eindruck bekommen, dass die Polizei „angefangen“ hätte. In den Fällen, bei denen ich dabei war, ging die Eskalation ohne Ausnahme von den Randalierern aus.

Noch schlimmer als opportunistische Ferndiagnostiker sind allerdings jene „Journalisten“, die meinen, man müsste der ganzen Zerstörungswut, all den brennenden Autos und verletzten Polizisten auch noch etwas Positives abgewinnen. So schrieb ein Rüdiger Suchsland bei Heise-Online doch glatt:

Es geht um die Macht der Bilder. Den Autonomen ist es – im Gegensatz zu anderen, friedlicheren und akademischeren Protestlern, im Gegensatz zu den Fähnchenschwingern von Oxfam und Attac – gelungen, Gegenbilder zu produzieren und die Macht der Bilder der Herrschenden zu brechen. Das ist ihr Erfolg. Mit einem Symposium, auf dem kluge Leute kluge Dinge über den Gipfel sagen, wären sie vielleicht auch in die „Tagesthemen“ gekommen, aber sie hätten die Nachrichtenlage nicht über zwei Tage dominiert.

Wer so argumentiert, dessen Sinn für Politik würde nicht einmal die Jahreshauptversammlung der örtlichen Schrebergartenkolonie bereichern. Und das ist in diesem Fall noch die netteste Formulierung, die mir einfällt. Der Argumentation von Suchsland folgend, müsste man nämlich zu dem geradezu bahnbrechenden Schluss kommen, dass es eigentlich zu wenig Gewalt gab.

Schließlich wäre die Macht der Bilder noch größer gewesen, wenn die Randalierer nicht nur Autos und Mülltonnen, sondern ganze Häuser, ach was, Häuserblocke abgefackelt hätten, am Besten mit Menschen drin. Und wäre die Macht der Bilder nicht noch größer gewesen, wenn die Chaoten die Polizisten nicht „nur“ mit Zwillen, sondern gleich mit Pistolen beschossen oder sich inmitten einer Hundertschaft in die Luft gesprengt hätten?

Ich bin mir fast sicher, dass Rüdiger Suchslands Auto nicht brannte, auch nicht sein kleiner Kiosk, der seine Existenz bedeutete, und ich bin mir relativ sicher, dass Suchsland nicht von Linksradikalen gejagt und geschlagen wurde, oder sich gemeinsam mit anderen Beamten der Gewalt entgegenstellen musste, um die öffentliche Ordnung zu wahren.

Ja, ich bin mir sogar relativ sicher, dass Suchsland nicht im Kampfgebiet, nicht mal in der Nähe, wohnt, nachts in Ruhe schlafen konnte oder störungsfrei zur Flasche greifen, um im Anschluss seinen neuesten Revoluzzer-Text in die Zeilen zu hämmern. Denn wie drückte es Andreas Beuth, Anwalt der Roten Flora, so wunderschön aus: „Wir haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen.“ Verständlich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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