Politische Realität ist keine Wahrheit. Sie ist das Resultat einer ganzen Reihe von Interpretations- und Erfahrungsmustern, von Überzeugung und Misstrauen, Zustimmung und Ablehnung. Die politische Realität des einen kann daher völlig konträr zu der des anderen sein. Besonders eindrücklich zeigt sich das an der aktuellen Migrationsdebatte.
Wo beginnt Rassismus? Wieviel Zuwanderung ist zu viel Zuwanderung? Ist der Islam mit demokratischen Grundwerten vereinbar? Und was wiegt mehr, die Bringschuld der Ankommenden oder die Verantwortung der Aufnehmenden? Eine kleine Auswahl großer Fragen, mit denen sich der politische Mensch von heute konfrontiert sieht. Fragen allerdings, auf die es keine absolute Antwort gibt. Daher brauchen wir den Diskurs und für den Diskurs brauchen wir die Sprache.
Allerdings lässt sich zunehmend beobachten, dass Sprache in der politischen Auseinandersetzung gelöst wird von ihrem ursprünglichsten Zweck, der Vermittlung zwischen Sender und Empfänger – und zum Instrument wird, um den politischen Gegner von Grund auf abzuwerten.

Der Streit ist das Schmiermittel der Demokratie
Zum einen nimmt die Verwendung von Vokabular, das nach dem Prinzip des Argumentum ad hominem nicht mehr auf den Standpunkt des Gegenübers zielt, sondern auf den Menschen dahinter, zu. Populärstes Beispiel ist die inflationäre Verwendung der Wörter „Rassist“ oder „Rechtspopulist“, aber auch „Gutmensch“ oder „Volksverräter“. Begriffe allesamt, die – und deren diverse Varianten – nutzlos sind, da sie aufgrund ihrer negativen Konnotation nur einseitig verwendet werden. Sie grenzen nicht ein, sie werten ausschließlich ab.
Eine solche Diskreditierung des politischen Gegners von Grund auf macht aber auch die Diskussion an sich nutzlos. Denn eine zielführende Debatte braucht mindestens zwei Parteien, die sich auf Augenhöhe begegnen, und in der Sache streiten – nicht über die angebliche Gesinnung des Gegenübers. Nicht über Außenstehende, die ihm widersprechen werden, nicht über falsche Seiten, die ihm applaudieren könnten.
Es gibt keine richtigen oder falschen Diskutanten, nur sachliche und unsachliche Positionen. Je weniger das Argument verglichen mit der politischen Gesinnung des Argumentierenden aber zählt, desto stärker rücken wir ab von einem demokratischen Diskurs und damit in letzter Konsequenz auch von der Demokratie selbst, deren wichtiges Schmiermittel seit jeher der Streit ist.
Ohnehin ist es aber auch mehr als mühsam, eine einzelne Person einem bestimmten Lager absolut zurechnen zu wollen. Das zeigen zahlreiche Fälle von Autoren, die früher angeblich links waren und heute angeblich rechts sein sollen. Und das zeigen Fälle von renommierten Politikern, die sich gegen die vorherrschende Gesinnung in der eigenen Partei stellen. Darunter der des Grünen-Politikers Boris Palmer, der sich regelmäßig als Kritiker der aktuellen Migrationspolitik zu Wort meldet, oder der einer Sarah Wagenknecht, die mit ihrem Real-Sozialismus regelmäßig in der eigenen Partei aneckte. Aber auch der Fall Angela Merkel und die Flüchtlingskrise steht exemplarisch für diese Nicht-Zuordenbarkeit: Mit ihrer Grenzöffnung im Jahr 2015 stellte sich die Kanzlerin nicht nur gegen einen großen Teil der eigenen Partei, sondern mit ihrer Botschaft „Wir schaffen das“ auch gegen sich selbst: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“, sagte die gleiche Kanzlerin dagegen noch im Oktober 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam.

In der Willkommenskultur fühlen sich auch Salafisten zuhause
Eine weitere Entwicklung, über die es sich in diesem Zusammenhang zu reden lohnt, ist die Zunahme der Diskussionen, die sich um die Wortwahl drehen, statt um den Inhalt. Dass der politische Mensch im Ton Mal schärfer wird, sich hin und wieder auch im Ton vergreift, ist natürlicher Teil dieser Auseinandersetzung. Schließlich geht es nicht um Lappalien, sondern um die wichtigsten Fragen, die der Bürger eines Landes stellen kann. Darunter diese: In welcher Gegenwart wollen wir leben? Und was macht dieses Land in Zukunft (noch) lebenswert?
Deshalb wird über Migration derart gestritten. Den meisten, den vernünftigen Kritikern einer weitgehend unkontrollierten Zuwanderung geht es nicht um Rasse und nur bedingt um Religion, insofern sie in ihrer jeweiligen Ausprägung mit unseren Werten vereinbar ist. Ihnen geht es auch nicht um den einzelnen Migranten, der zumeist seine guten, seine ganz persönlichen Gründe haben wird, von einer vertrauten Umgebung in die Fremde zu gehen. Nein, die so genannten Migrationskritiker von heute wehren sich lediglich gegen ein Multikulti-Experiment, dessen Ausgang völlig offen ist, das aber bereits eine Gesellschaft gespalten und das Sicherheitsgefühl eines großen Teils der schon länger hier Lebenden verschlechtert hat. Darunter übrigens auch zahlreiche Deutsche, die selbst einen Migrationshintergrund haben.
Denn in der warmen Willkommenskultur machen sich laut aktuellem Verfassungsschutzbericht auch 26.000 Salafisten breit und rund 770 islamistische Gefährder. Hinzu kommen noch zahlreiche vorwiegend junge Männer, die aus patriarchalischen und unserer Kultur völlig fremden Gesellschaften zu uns kommen. Eine kulturelle Prägung lässt man aber nicht einfach in der alten Heimat zurück, man nimmt sie mit in die neue.
Müssen wir die Störenfriede und Gewalttäter vielleicht aushalten, zugunsten jener friedlichen Zuwanderer, die voller Optimismus nach Deutschland kommen und einen echten Beitrag leisten wollen? Steht der Humanismus über allem? Müssen wir das Ertragen neu lernen und akzeptieren, dass die große Idee einer multikulturellen, einer globalisierten Welt bedeutender ist als das Schicksal einer 21-Jährigen im schwäbischen Memmingen?

Eine Frage der Wortwahl
Dass es in der Migrationsdebatte angesichts solcher Fragestellungen zu scharfen Tönen kommt, liegt auf der Hand. Die Wucht der Rückkoppelungen, vor allem wenn es „gegen Rechts“ geht, hat im Jahr 2018 allerdings ein bemerkenswertes Ausmaß erreicht. Denn die politische Korrektheit beschränkt sich längst nicht mehr auf das Naheliegende. Stattdessen wird sie immer stärker in sämtlichen Facetten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens verhandelt. Das hat wiederum zu einer Hypersensibilität unter den Deutschen geführt, die wichtige Debatten bereits im Keim erstickt oder Nebenschauplätze zu Hauptschauplätzen werden lässt.
Das vom bayerischen Ministerpräsident Markus Söder gebrauchte Wort „Asyltourismus“ etwa mag manch einem nicht gefallen, bringt Söders Kritik aus seiner Perspektive – und aus der Perspektive vieler anderer – allerdings auf den Punkt: Es kann nicht sein, so der Tenor, dass die aktuelle Asylpolitik bei Migranten ähnliche Verhaltensmuster befördert wie bei Touristen, die kreuz und quer durch Europa reisen wie es ihnen gerade beliebt.
Die Kritik an Söder entzündete sich anschließend aber nur sekundär am Inhalt seiner Aussagen, dafür primär an seiner Wortwahl. Mit dem Begriff „Asyltourismus“ mache er sich über Flüchtlinge lustig, verkenne die Schrecken von Flucht und Vertreibung, setze Urlaub und Flucht gleich, war da zu lesen. Die SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles warf Söder obendrein vor, so Ressentiments gegen Flüchtlinge zu schüren. Dabei ging es Söder gar nicht um die Flucht an sich, sondern ihre Folgen im Kontext offenkundiger Fehler im System.
Selbstverständlich kann man den Begriff „Asyltourismus“ unpassend finden. Die entscheidende Frage lautet jedoch, ob Söder mit seiner inhaltlichen Kritik richtig lag oder falsch. Darüber sollte diskutiert werden, nicht über ein einziges Wort. Ebenso wie über die Vor- und Nachteile offener Grenzen diskutiert werden kann, über Chancen und Versäumnisse deutscher Integrationspolitik, über ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild oder den Sinn und Unsinn der Ankerzentren. Aber nicht von Rechtspopulist zu Volksverräter, sondern von Bürger zu Bürger – und im Sinne einer echten, einer demokratischen Debatte.

 

 

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