Der Publizist Milosz Matuschek und der Schriftsteller Gunnar Kaiser folgen dem amerikanischen Vorbild und haben einen „Appell für freie Debattenräume“ verfasst. Die Initiatoren beklagen einen „Ungeist“, der „seit einigen Jahren das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt“. Und sie beklagen, dass „nicht die besseren Argumente zählen, sondern zunehmend zur Schau gestellte Haltung und die richtige Moral“.
Deshalb fordern Matuschek und Kaiser etwa Veranstalter auf, nicht einzuknicken, wenn ein Online-Mob gegen den Auftritt eines unliebsamen Künstlers wettert. Und sie fordern das Ende der „Kontaktschuld“; also der Unsitte, dass der Dialog mit unliebsamen Personen – oder mit ihnen auf der gleichen Geburtstagsfeier zu sein – bereits ausreicht, um selbst zur Persona non grata zu werden. Einen konkreten Adressaten wie bei einer Petition gibt es nicht. Matuschek und Kaiser wollen ein Zeichen setzen und Betroffenen signalisieren: Ihr seid nicht allein.
„Toleranz für Intoleranz?“
Die Liste der Erstunterzeichner umfasst eher unbekannte und durchaus illustre Namen gleichermaßen. Auf Twitter wurde kontrovers über den Appell diskutiert. Der Deutschlandfunk griff das Thema auf, doch anstatt mit den Initiatoren zu sprechen, lud man dort lieber einen Experten zum Gespräch, der den Aufruf für überzogen hält. Auch die Süddeutsche Zeitung berichtete. Den Beitrag „Toleranz für Intoleranz?“ kann man sich getrost schenken. Es reicht die Lektüre der Headline und des Teasers, um zu erfahren, dass die Aktion irgendwas mit der Rechtfertigung von „Intoleranz“ zu tun habe und der Appell ohnehin “obskur” sei.
Der SZ-Text ist wenig erbaulich. Alles nicht so schlimm, alles doch harmlos, das Wenige nur Einzelfälle, so der Tenor. Und überhaupt seien die Unterzeichner doch „bekannte Köpfe der rechtskonservativen Infosphäre“, heißt es in der SZ, „zu deren Beruf es gehört, hinter jeder Ecke politische Korrektheit und Moralterror zu vermuten und sich umstellt zu fühlen von linksradikaler Gesinnungsinquisition“. Wer so schreibt, wie es Philipp Bovermann und Felix Stephan im SZ-Beitrag „Toleranz für die Intoleranz?“ getan haben, ist wenig interessiert an der Sache. Wer so schreibt, der will Basta-Lektüre liefern. Das ist ihnen gelungen.
Die Kontaktschuld lässt grüßen
Dass Erstunterzeichner wie Harald Martenstein, Götz Aly, Vince Ebert, Necla Kelek oder Günther Wallraff nun laut SZ also – auch – zu den „Köpfen der rechtskonservativen Infosphäre“ zählen sollen, ist tatsächlich obskur. Dass Bovermann und Stephan in der Kritik am Appell, der übrigens nicht als Meinungsbeitrag gekennzeichnet ist, ausgerechnet das tun, was darin kritisiert wird – nämlich den Appell als rechten Gottseibeiuns abzukanzeln – entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wer den Appell unterzeichnet, steht bei der SZ im Kleingedruckten, der darf sich dann auch zur „rechtskonservativen Infosphäre” zählen lassen. Die Kontaktschuld lässt grüßen.
Stimmt schon. Unter den Unterzeichnern sind auch Personen, die in der linksliberalen und – intellektuellen Szene nicht willkommen sind. „Umstritten“, wie es so schön heißt. Der Grünen-Politiker Boris Palmer zum Beispiel, der Medienwissenschaftler Norbert Bolz oder die Autorin und ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. Die eigene Antipathie aber als Bewertungsgrundlage für einen Appell zu nehmen, deren Erstunterzeichner-Liste sich diverser liest als manches Impressum einer Tageszeitung, ist journalistisch mindestens fragwürdig. Auch ich habe den Appell nun unterzeichnet und werde meinen Namen ebenfalls auf der Liste der Erstunterzeichner wiederfinden.
Wer hat’s erfunden? Die Rechten!
Einen „kulturellen Bürgerkrieg“, wie Norbert Bolz analysiert, sehe ich derzeit zwar nicht, jedenfalls nicht hierzulande. Aber es gibt sie, die Warnsignale. Man muss sie nur erkennen wollen. Marcel Bohnert, Jörg Bernig, Hans Joachim Mendig, Jörg Baberowski, Lisa Eckhart, Dieter Nuhr, Uwe Tellkamp, Mathias Döpfner, um einige Namen zu nennen, sind solche – ganz unterschiedlichen – Einzelfälle, die auf dem Meinungskorridor abgestraft oder mit Forderungen nach Sanktionen konfrontiert wurden, die mehr waren als Gegenrede. Da ging es bisweilen um die Existenz.
Die Aggression, die Wut und die Kompromisslosigkeit, die „den anderen“ regelmäßig für ihre individuelle Meinung – und sei es auch nur Greta-Thunberg-Satire – entgegenschlägt, bereitet mir schon länger Bauchschmerzen. Ist das schon Cancel Culture? Nein, heißt es dann gerne, schließlich könnten die Betroffenen ja weiterhin öffentlich auftreten und verdienen gutes Geld mit ihren Äußerungen; siehe Thilo Sarrazin. Und weiter: Cancel Culture sei doch nur eine Erfindung der „Rechten“, um frei am Intoleranz-Rad zu drehen.
Derlei Argumente lassen sich leicht entkräften: Dass etwa ein Thilo Sarrazin erfolgreiche Bücher schreibt, ist das eine. Dass er nur unter Polizeischutz auftreten kann, etwas ganz anderes. Gleiches gilt für den Islamkritiker Hamed Abdel-Samad. Dass Lisa Eckharts Popularität zuletzt gewachsen ist, ist das eine. Dass man für ihre Sicherheit nicht garantieren will, das andere. Dass Mathias Döpfner seine Meinung weiterhin äußern wird, ist das eine. Dass ihm sogar der Deutsche Journalisten Verband in den Rücken fällt, etwas ganz anderes.
Mit der Bitte um Kenntnisnahme: Als Unterzeichner geht es mir nicht darum, mich mit den teils unsäglichen Thesen eines Sarrazins gemein zu machen. Toleranz ist nicht Akzeptanz. Noch geht es mir primär um die genannten Fälle, da die prominenten Beispiele eben genau das sind: prominent. Damit verfügen sie auch über ein gewisses Standing in der Öffentlichkeit und ihre Mittel und Wege, unschöne Angriffe auf ihre Person abzuwehren.
Ich habe den Appell unterzeichnet, weil ich mich ehrlich sorge um die Debattenkultur in diesem Land. Und darum, welchen Effekt jede öffentliche Hexenjagd, zu der unter welchem Label auch immer geblasen wird, auf die freien Gedanken der Bevölkerung hat. Hier schließe ich Attacken wie jene, denen Dunja Hayali regelmäßig ausgesetzt ist, oder Morddrohungen gegen die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah ausdrücklich mit ein, ebenso wie Shitstorms gegen Unternehmen, die mit eigentlich harmlosen Motiven werben.
Hier liegt denn auch die Stärke des Appells: Er ist kein Blame-Game, weil auf niemand Konkretes mit dem Finger gezeigt wird. Auch nicht auf die „Linken“. Das lässt ausreichend Raum für die individuelle Motivation eines jeden Unterzeichners. Und ich habe ihn unterschrieben – dies zur Initialzündung meines Engagements – weil mich besonders der Fall Jörg Bernig erschreckte.
„Neurechts“ und „völkisch-national“
Der Erzähler und Lyriker sollte eigentlich Kulturamts-Chef im sächsischen Radebeul werden. In einem Bericht des CDU-Stadtverbandes zu einer Diskussionsrunde im Jahr 2018, zu der auch Bernig geladen war, war zu lesen: „Die Eliten, die CDU eingeschlossen, wollen das Land und die Gesellschaft verändern, bunt, multikulturell und weltoffen gestalten. Die zentrale Frage laute jedoch, was Deutschland denn ausmache, und da beklagte Bernig eine gewisse kulturelle Selbstvergessenheit.“
Aussagen wie die hier notierte, wurden Bernig später zum Verhängnis. Manchen gilt er heute als „neurechts“, auch von „völkisch-nationalem“ Gedankengut ist zu lesen. Wasserdichte Belege für derlei Vorwürfe gibt es nicht. Sie beruhen viel mehr auf der böswilligen Interpretation dessen, was Bernig gesagt hat oder gesagt haben soll. Und etwa darauf, dass Texte von ihm auch in Sezession erschienen sind, also in der Zeitschrift des neurechten Verlegers Götz Kubitschek.
Bernig – der sich in diesem Podcast ausführlich zu seinem Fall äußert – wurde trotzdem gewählt, offenkundig, weil seine Ideen für das ausgeschriebene Amt überzeugten. Der Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer trat daraufhin eine Protestaktion gegen „den Mann mit der ausländerfeindlichen Gesinnung“ los. Bernig ist im Nebenerwerb übrigens Sprachlehrer für Migranten.
Die Wahl Bernigs war bald passé und Neuwahlen wurden initiiert. Auch der Schriftstellerverband PEN, dem Bernig angehört, kritisierte Bernig öffentlich, allerdings ohne mit ihm gesprochen zu haben, sagt Bernig. Und vor allem: ziemlich vage, etwas zu vage für einen Verband, dessen Mitglieder vom geschriebenen Wort leben, meine ich. Von dem PEN-Statement gegen ihn erfuhr Bernig übrigens aus der Zeitung. Bei den Neuwahlen trat er nicht mehr an. Verständlich.
Lassen Sie uns streiten
Ob die Kritik an Bernig rechtens war und ist, kann ich nicht final beurteilen. Dies gilt auch für viele andere Fälle. Dass die hier geschilderte Abrechnung mit einem unbliebsamen Geist aber wenig Aufklärerisches in sich trägt, steht außer Frage. Streitbar zu sein, Umstrittenes zu tun und dafür mit harscher Kritik konfrontiert zu sein, gehört zum Kern einer lebendigen Demokratie. Personen öffentlich zu steinigen nicht, sie zu diffamieren und vom öffentlichen Leben auszuschließen, ebenfalls nicht. Und auch nicht, ihnen Teile ihrer Existenz entziehen zu wollen, weil von Einzelnen als unsäglich empfunden wird, was sie schreiben oder sagen.
Kurzum: Lassen Sie uns streiten, meinetwegen heftig. Aber streiten sollten wir. Und vielleicht haben Initiativen wie der „Appell für freie Debattenräume“ ja ihren Anteil daran, dass die Debatten hierzulande – online wie offline – wieder stärker auf einer sachlichen Ebene geführt werden. Es wäre wünschenswert. Deshalb habe ich den Appell unterzeichnet. Und dafür muss ich nicht mit allen Unterzeichnern in allen Belangen einer Meinung sein.