Vielleicht bin ich trotz meiner 34 Jahre bereits zu altmodisch, um die Regeln des Zusammenlebens im Internet vollumfänglich zu begreifen. Doch: Wenn eine Vielzahl von Menschen bis hoch zum Spitzenpolitiker direkt oder indirekt über eine Frau herfallen, die auf einer Demonstration einen offensichtlich absurden Vergleich („Ich fühle mich wie Sophie Scholl“) tätigt: Welche Art menschlicher Interaktion ist das dann eigentlich? Wo verläuft die Grenze zwischen öffentlichem Widerspruch und systematischem Mobbing? Und: Wollen wir wirklich, dass derlei Mistgabel-Interaktion auch zum „new normal“ wird?

Spott und Hohn hat auch in der öffentlichen Debatte seinen Platz. Ich bin mehr noch Befürworter von Polemik als ein Mittel des Diskurses, wenn sie denn klug gemacht ist. Und ich bin ein Fürsprecher der Satire, die aus gutem Grund (fast) alles darf oder zumindest dürfen sollte. Denn „Da, wo’s zu weit geht, fängt die Freiheit erst an“ (Werner Finck) und da, wo heftig gestritten wird, gibt die Demokratie ein Lebenszeichen – und zeigt, dass sie allen Unkenrufen zum Trotz eben sehr wohl noch existiert.

Nichtsdestotrotz scheint mir eine kluge Polemik gegen Menschen des öffentlichen Lebens – vor allem, wenn sie mit einiges an Macht und Geld oder beidem ausgestattet sind – doch etwas anderes zu sein als ein systematischer Shitstorm gegen irgendeine Frau wegen irgendeiner missglückten Aussage. Und da interessiert es mich – nach den Werten und Normen, die ich für mich selbst definiert habe – erstmal gar nicht so sehr, ob diese Frau nun „Querdenkerin“ ist oder Umweltschützerin oder beides, was ja durchaus vorkommen soll.

Es scheint mir daher auch lohnenswert, Widerspruch nicht einfach zu formulieren, sondern sich auch zu fragen, in welcher Heftigkeit der formulierte Widerspruch wirklich nötig ist – oder ab wann die Heftigkeit eines Widerspruchs nicht mehr verhältnismäßig sein könnte. Und auch: Wie man sich selbst wohl fühlen würde, wenn man nicht Teil derer ist, die schimpfen, sondern zum Objekt der öffentlichen Beschimpfung wird. „Da steckst ned drin“, sagt man bei uns. Und da ist viel Wahres dran.

Gerade im Streit um die Corona-Pandemie geht es viel um Moral. Die schwingt da irgendwie ständig mit. Egal, ob man nun alle Risikogruppen durch einen heftigen Lockdown schützen möchte, weil Solidarität eben ein ganz essenzieller Bestandteil einer funktionierenden Gesellschaft ist. Auch, wenn die Minderheit eben nicht die Mehrheit ist. Oder ob man Menschen zur Seite stehen will, für die die gleichen Maßnahmen eben nicht mehr Schutz – weil keine Risikogruppe – bedeuten, sondern zuvorderst eine Bedrohung ihrer Existenz; also heftige Erschütterungen mit weitgehenden Folgen, die nicht nur die Hoffnungen und Wünsche für die eigene Zukunft verblassen, sondern auch die Entbehrungen und Anstrengungen der Vergangenheit obsolet werden lassen.

Wir alle täten gut daran, uns im Klaren darüber zu sein, dass jede Beleidigung, jeder Shitstorm, jede Kritik nicht nur einen Account trifft oder die Protagonistin eines Videoausschnitts, sondern einen echten Menschen, der mit Weisheit gesegnet und mit Dummheit gestraft ist, der Träume und Wünsche hat, Ängste und Trauer spürt, der abends auf seinem Sofa sitzt und tatenlos dabei zusehen muss, wie eine Welle aus Widerspruch, Entrüstung und Hass über ihn hereinbricht. Formulieren Sie ihren Tweet, dann stellen Sie sich vor, ihre Mutter oder Frau würde diesen Tweet erhalten, und dann fragen sie sich: Soll ich wirklich?

Ob das, was der „Querdenkerin“ gerade geschieht, nun Mobbing ist, kann ich nicht final beurteilen. Aber dass das, was dieser einen Frau – und vielen anderen aufgrund ganz anderer Geschehnisse – entgegenschlägt, hat zumindest gewisse Ähnlichkeiten mit dem, was bei Mobbing vor sich geht. Und wir alle wissen, welche Folgen derlei Erlebnisse für einen einzelnen Menschen haben können. Und da ist es mir zumeist – und ich wiederhole mich, weil das eben genau der springende Punkt ist – auch egal, was das Mobbing-Opfer vorher selbst gesagt oder getan hat, wo es demonstriert oder ob es wahlweise glaubt, Corona sei eine Lüge oder doch die Erfindung von Bill Gates, um die Menschheit zu versklaven. Wenn wir zivilisiert sein wollen, dann müssen wir uns auch entsprechend verhalten. Auge um Auge, ist da kein guter Ratgeber.

Dank der ersten Impfstoffe gegen das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 können wir davon ausgehen, dass auch diese „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ irgendwann überstanden sein wird. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Jeder Tag, der bis dahin vergeht, entscheidet mit darüber, in welchem Zustand sich unsere Gesellschaft am Ende dieser Pandemie befindet. Und damit meine ich nicht die Spätfolgen des Corona-Virus, sondern die Spätfolgen der Maßnahmen gegen und der Debatte rund um das Virus. Wir entscheiden darüber, wo die Reise hingeht.

Wenn wir aber nicht endlich anfangen zu verstehen, dass eine gesunde Debattenkultur nicht infolge eines Shitstorms entsteht, sondern indem man sich unschönen Auswüchsen der digitalen Welt wie diesen verweigert und auch jenen einen geschützten Raum anbietet, deren Perspektiven auf die Welt man nicht teilt, steuern wir auf ein Debakel zu. Denn die Demokratie braucht Argumente und Widerspruch, sie braucht aber auch Empathie und Nachsicht. Und ja, sie braucht auch das Recht, irrsinnige Vergleiche zu artikulieren, und dafür Gegenwind zu bekommen. Doch gegen eine gespaltenes Land – wir sehen es derzeit in den USA – gibt es leider keinen Impfstoff.

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